Aus Christophs Ransmayrs Roman Die Letzte Welt: Cotta hatte sich aufgemacht, um den verbannten Naso  (= Ovid) aufzusuchen. Nach einer beschwerlichen Reise gelangte nach Tomi am Schwarzen Meer, wo er Naso zu finden hoffte. Er trifft jedoch nur Nasos Knecht und Diener Pythagoras, mit dem er sich mitten in der Nacht auf den Weg macht, .....

.......... Jetzt blieb Pythagoras stehen und schrieb mit dem Windlicht einen langsamen Bogen in die Dunkelheit; die beiden waren ans Ende ihres kurzen Weges gelangt und standen nun auf einer schmalen, vom Dickicht fast völlig überdachten Lichtung, auf der jeder Bewuchs verdorrt zu sein schien. An den Rändern dieses dunkelgrünen Raumes schlossen sich die Pflanzen wie zur Undurchdringlichkeit. Cotta stand im Lampenlicht, wandte sich um und sah nur seinen Schatten, der gegen die Blätterwand zeigte, aber erkannte schon nicht mehr, an welcher Stelle sie aus dem Dickicht getreten waren. Pythagoras schrieb mit seiner Lampe an dem Bogen weiter, vollendete ihn zum Kreis, und im dahinhuschenden Licht sah Cotta Steine, Granittafeln, Menhire, Schieferplatten, Säulen und rohe, wuchtige Quader, aufrecht die einen, andere gestürzt und schon tief in die Erde gesunken, wie von einer großen Gewalt über diese Lichtung verstreut, von Flechten und Moos überwachsen, ein verfallener Skulpturengarten oder ein Friedhof. Nein, das war kein Moos, das waren keine Flechten auf den Steinen; das waren Hunderte, Tausende kleiner Nacktschnecken, ineinander verschlungen und übereinander kriechend bedeckten sie diese Steine an vielen Stellen, lange, schimmernde Polster.

Pythagoras ging zwischen den Steinsäulen umher wie zwischen Menschen oder ihren Gräbern, blieb hier stehen und murmelte einige unverständliche Worte, warf auf den nächsten Stein nur einen flüchti­gen Blick, nickte einem Monument zu, stellte seine Essigkaraffe zu Boden und faßte an einen Schneckenmantel wie an eine Schulter, griff in das schleimige Geflecht und war schon einen Schritt weiter, als Cotta Ekel empfand. Sie waren in Nasos Garten. Der Knecht wandte sich nun einem Megalithen zu, der ihn finster überragte und goß mit einer beiläufigen Bewegung einen Essigstrahl über eine Schneckenkolonie.

Noch im gleichen Augenblick wich die Stille der Lichtung einem hohen, vielstimmigen und feinen Pfeifen, kaum lauter als das sehr ferne und in der Weite fast unhörbar gewordene Geräusch einer Windharfe, und Cotta begriff, daß dies der Lärm des Sterbens war, das Entsetzen und der Schmerz der Schnecken . . . und sah, wie in dieses zähe, feuchte Strickwerk aus Fühlern und Leibern die Bewegung des Todes kam, ein jähes, zuckendes Leben. Die Schnecken wanden und krümmten sich unter der furcht­baren Wirkung der Säure und stießen zu ihrem Todespfeifen Trauben von Schaum hervor, Schaumblüten, glitzernde, winzige Blasen. Dann fielen die Tiere sterbend ab, stürzten, glitten, rannen umarmt den Stein hinab und gaben ihn frei. Und dann erschien auf einer solchen, vom Leben befreiten Stelle das Wort feuer. Cotta sah, daß der Stein eingemeißelte Schriftzeichen trug, und der Knecht fuhr mit seinem Schneckenvernichtungswerk fort. Die Dunkelheit war erfüllt vom feinen Gesang des Schmerzes. Der Knecht ging mit seiner Karaffe von Stein zu Stein, verteilte den Essig mit Bedacht und wie nach einem Plan auf die Schneckenpolster, und auf den wüsten Flächen erschienen immer mehr Worte, Sätze, unleserlich manche, andere ungelenk eingeschlagen wie von einem, der sich in der Steinmetzarbeit erst versucht hatte, finger- und handgroße Schriftzeichen.

Dreizehn, vierzehn, fünfzehn behauene Steinsäulen zählte Cotta schließlich und las hier das Wort feuer oder zorn, dort gewalt, sterne und eisen und begann zu begreifen, daß er vor einem auf fünfzehn Menhire verteilten, gemeißelten Text stand, einer Botschaft auf Basalt und Granit unter einem Mantel aus Schnecken. Und dann war es Pythagoras, der still stand und Cotta, der ihm das Windlicht aus der Hand genommen hatte, zwischen den Steinen umhergehen sah, immer hastiger und ungeduldiger, gierig nach dem Zusammenhang und Sinn der Sätze; ein Bruchstück auf jedem Stein.

Cotta entzifferte und flüsterte die Worte wie einer, der lesen lernt, zerriß nun mit seinen eigenen Händen die Schneckenmäntel dort, wo er neue Worte vermutete und fügte, was zum Vorschein kam, aneinan­der, prüfte und verwarf den Sinn und Zusammenhang einmal und wieder, begann das Spiel irgendwo anders und neu, bis ihm schließlich schien, als seien alle Möglichkeiten der Zusammensetzung und Verbindung der Bruchstücke in einer einzigen Nachricht erschöpft:

ich habe ein werk vollendet
das dem feuer standhalten wird

und dem eisen

SELBST DEM ZORN GOTTES UND
DER ALLESVERNICHTENDEN ZEIT

 

WAN IMMER ER WILL
MAG NUN DER TOD
DER NUR ÜBER MEINEN LEIB
GEWALT HAT

mein leben beenden

aber durch dieses werk
werde ich fortdauern und mich
hoch über die sterne emporschwingen

und mein name wird unzerstörbar sein

Obwohl Cotta auf der Welt nur einen einzigen Mann kannte, der zu einer solchen Vision fähig war, rief er dem Knecht durch die Dunkelheit zu, wer hat das geschrieben. Pythagoras stand am Rand des Lichtkreises und schabte mit einem dürren Stück Holz Schneckenreste aus der tief gemeißelten Gravur des ich und sagte, was er sagen mußte, den Namen seines Herrn.

Aber wo war Naso? War er am Leben? Hielt er sich in dieser Wildnis verborgen? Fort, sagte Pythagoras nur, er ist fort. Was bedeutete fort? Fort be­deutete, daß Ovid sich eines Morgens wie immer erhoben und das Fenster geöffnet hatte, daß er das Eis im großen Steintrog des Hofes mit einer Axt aufschlug und einen Krug Wasser schöpfte; fort bedeutete, daß an irgendeinem Wintermorgen alles wie immer gewesen und Naso ins Gebirge gegangen und nicht wiedergekommen war. Wie lange dieser Morgen, dieser Winter zurücklag? Ein Jahr? Zwei Jahre? Und hatte jemand nach dem Verschwundenen gesucht? Aber jetzt zuckte der Knecht nur die Achseln und schwieg. Das ich schimmerte nun blank, wie frisch gemeißelt auf dem Menhir. Pythagoras warf sein Schabwerkzeug zufrieden fort, trat einen Schritt zurück und betrachtete seine Arbeit: ich habe ein werk vollendet ........